Spanien gewinnt das EM-Finale gegen England. Auch wenn die Engländer im Finale keine schlechte Leistung zeigen: Der Sieg der Spanier war verdient. Der spanische Triumph setzt zugleich einen schönen Kontrastpunkt auf diese biedere wie defensive Europameisterschaft. Mein Fazit zum Finale und zum Turnier!
Meine Spielanalyse
Ein Finale ist kein Ort für taktische Spielchen, schrieb ich in meinem gestrigen Tagebucheintrag. Englands Trainer Gareth Southgate wagte sich dennoch überraschend weit aus seinem Schneckenhaus. Seine Engländer spielten anders, als ich dies vorausgesagt hatte. Ihr defensiver Ansatz prägte die erste Halbzeit.
Wie sah die Strategie der Engländer aus? Sie wollten aus einer massierten Defensive das spanische Mittelfeld nicht ins Spiel finden lassen. Southgate stellte mit Luke Shaw einen waschechten Linksverteidiger auf. Er sollte jedoch keine offensiven Akzente setzen: England war bedacht darauf, sicher zu stehen.
Im Mittelfeld spielten die Engländer stark mannorientiert. Phil Foden durfte als Zehner ran, fiel aber hauptsächlich durch defensiven Einsatz auf. Er stand Rodri auf den Füßen. Auch Fabian Ruiz und Dani Olmo wurden eng bewacht. Die Engländer versuchten, die Spanier zu Pässen auf die Flügel zu verleiten.
Auf den Seiten bewachten die Engländer ihre Gegenspieler ebenfalls eng. Saka und Bellingham arbeiteten viel nach hinten mit, damit Yamal und Williams nicht in Eins-gegen-Eins-Situationen gelangen konnten. Tatsächlich war die spanische Flügelzange die gesamte erste Halbzeit abgemeldet.
England wählte dabei nicht zu viel Risiko. Sie stellten den spanischen Spielaufbau zwar zu, wichen aber sofort nach hinten, wenn die Spanier einen öffnenden Pass spielten. Es entstand das erwartete Spiel: Spanien hatte 70% Ballbesitz, England wiederum keine Tiefe, um eigene Konter zu fahren. Exakt eine Chance habe ich in der ersten Halbzeit auf meinem Notizblock vermerkt: Fodens Schuss nach einem Freistoß kurz vor Abpfiff.
Nach der Pause veränderte sich das spanische Spiel merklich. Ironischerweise musste ihr bester Spieler ausgewechselt werden, damit sie an Fahrt gewinnen. Rodrids Ersatzmann Martín Zubimendi gelang es im Zusammenspiel mit Fabian Ruiz, die spanische Manndeckung zu sprengen.
Deutlich zu erkennen war dies beim Tor. Foden steht hier Zubimendi nicht auf den Füßen, wie er es vor der Pause getan hatte. Stattdessen rückt er im Pressing auf eine Höhe mit Kane. Ruiz wiederum verschafft sich Freiraum, indem er auf die rechte Innenverteidiger-Position abkippt – ein Laufweg, den er mit Rodri an seiner Seite nicht macht, schließlich übernimmt Rodri die tiefere Rolle. Spanien spielte den Angriff über rechts mit Tempo zu Ende. Zack, schon stand es 1:0.
Der Rückstand weckte die lethargische englische Elf auf. Southgate brachte in Ollie Watkins einen neuen Stürmer, dadurch wechselte Bellingham ins Mittelfeld. Später griffen sie in einem 4-1-4-1 an mit Bellingham und Cole Palmer als Achter. Vor allem aber wagten es die Engländer nun, sich auch einmal spielerisch gegen das spanische Anlaufen zu befreien. Und siehe da: Das spanische Pressing war nicht unverwundbar.
Englands Problem: Der Ausgleichstreffer kam für sie zu früh – aus dem einfachen Grund, dass sie nach dem Ausgleich genug Zeit hatten, wieder ihrem defensiven Stil zu frönen. Immer wenn sie im Verlauf der K.O.-Phase etwas riskierten, wussten sie zu überzeugen. Das taten sie allerdings nur, sobald sie im Rückstand lagen.
Es kam, wie es kommen musste: Spanien fand die Lücken des neu zusammengewürfelten englischen Mittelfelds, spielte eine tolle Kombination – und holte sich damit den Sieg. Das Finale war gewiss kein rauschendes Fußballfest. Angesichts der englischen Vorsicht geht der spanische Erfolg aber absolut in Ordnung.
Meine Turnieranalyse
Damit wären wir bei der Quintessenz dieses Turniers angelangt. Wären defensiver und offensiver Fußball zwei Halbgötter, die sich um die Macht im Fußball-Olymp streiten, würde man nach diesem Turnier sagen: Der defensive Fußball hat wirklich alles in die Waagschale geworfen, um zu triumphieren.
Viele Außenseiter versuchten, mit defensivem Fußball weiterzukommen. Selbst die Favoriten beteten den Gott des Mauerns an. Die Hoffnung der Engländer, Franzosen, Niederländer und auch Portugiesen und Belgier lautete: Wenn wir möglichst kein Gegentor einfangen, können wir dieses Turnier gewinnen.
Obwohl dies eine Europameisterschaft der Risikovermeidung war, trug der offensive Fußball am Ende den Sieg davon. Spanien hielt sich nicht auf mit Risikominimierung und Manndeckung und stabilen Fünferketten. Sie würzten das technisch hochwertige spanische Ballbesitzspiel mit einer großen Prise Direktheit und einem Hauch Genialität auf Außen. Sie spielten kein tikinaccio, jene Mischung aus tiki-taka-Ballbesitzspiel und italienischem Catenaccio, die sie in den Jahren 2008 bis 2012 so erfolgreich gemacht hat. Sie spielten offensiv beeindruckenden Fußball.
Die einzige Nation, gegen die Spanien nicht binnen neunzig Minuten triumphieren konnte, war Deutschland. Auch die Deutschen setzten auf offensiven Fußball. Julian Nagelsmann war es wichtiger, seine zahlreichen talentierten Angreifer in möglichst passende Rollen aufzustellen, als die eigene Defensive zu stärken. Auch die Schweizer und die Österreicher übertrafen die Erwartungen dank einer offensiven Spielweise.
Das Ironische an dieser EM ist die Tatsache, dass alle erfolgreichen Teams Offensivfußball spielten. Trotzdem wird sie auf ewig als defensives Turnier in Erinnerung bleiben. Gerade einmal 2,29 Tore fielen pro Spiel, das sind 0,5 Tore pro Spiel weniger als bei der vergangenen Europameisterschaft. Kaum ein Spiel der K.O.-Phase wird länger als über den Sommer hinaus in Erinnerung bleiben; zu behäbig waren die Spiele, zu wenig Spektakel boten sie.
Gleichzeitig hat der Defensivfußball kein Team zum Erfolg geführt. Am Ende ist der spanische Sieg auch ein Triumph für den Offensivfußball. Es bleibt zu hoffen, dass die Nationaltrainer die richtigen Lehren aus diesem Turnier ziehen. Vielleicht erleben wir dann in vier Jahren wieder eine spektakulärere Europameisterschaft.
Meine Elf des Turniers
Es verwundert nicht weiter, dass der Sieger eines Turniers die meisten Spieler in der Elf des Turniers stellt. Dass ein Europameister aber derart ein Turnier dominiert, erleben wir nicht alle Tage.
Ich habe wirklich versucht, nicht mehr spanische Spieler als nötig aufzustellen. Andererseits soll eine Elf des Turniers auch die besten Spieler auf ihrer jeweiligen Position abbilden. Und gerade im Mittelfeld müsste man sich strecken, um Spieler mit besseren Leistungen zu finden als Rodri und Fabian Ruiz. Exakt dasselbe gilt für die Außenstürmer-Positionen. Lamine Yamal und Nico Williams haben diesem Turnier ihren Stempel aufgedrückt.
Nicht missen in einer Elf des Turniers will ich außerdem Aymeric Laporte. Ich kann kaum glauben, dass er das vergangene Jahr in der saudi-arabischen Liga verbracht hat. Seine Spieleröffnung war um Klassen besser als die seiner Konkurrenten.
Dani Olmo wiederum ist eine Verlegenheitslösung. Es war wahrlich keine EM der Stürmer. Gerade einmal drei Tore genügten, um sich die Krone des Torschützenkönigs zu teilen. Weder Harry Kane noch den sonstigen Kandidaten attestiere ich ein starkes Turnier. Ich hieve deshalb Olmo auf die Position des Stürmers. Er hat auch in diesem Turnier weit vorne gespielt, teilweise an der Seite von Alvaro Morata.
Auch auf den Außenverteidiger-Positionen könnte man mit Cucurella und Carvajal zwei Spanier nominieren. Da sie gerade defensiv manches Mal Lücken offenbarten, wähle ich hier den nicht-spanischen Weg – einfach weil ich sonst acht Spanier in der ersten Elf hätte. Auf der linken Seite kabbeln sich Michel Aebischer und Ferdi Kadioglu. So beeindruckend ich die Kampfstärke des Türken fand, entscheide ich mich am Ende für den unberechenbaren Schweizer. Auf rechts sehe ich Kimmich als stärksten Spieler des Turniers.
Es bleiben letztlich nur drei Positionen, auf denen kein Spanier ein Kandidat für die Elf des Turniers darstellt. Im Tor kann diese Ehre niemand Anderem gebühren als Giorgi Mamardashvili. Er war der Hauptgrund, warum Außenseiter Georgien überhaupt ins Achtelfinale vorrücken durfte.
Die zweite Innenverteidiger-Position besetze ich mit Dayot Upamecano. Er hat bei der EM jene Stabilität verkörpert, die sich die Bayern von ihm erhoffen. Ein Ehrensternchen verdienen sich Nuno Mendes in seiner Mischrolle aus Außen- und Innenverteidiger sowie Riccardo Calafiori.
Die offene Rolle im Mittelfeld würde ich mit Jamal Musiala besetzen. Er blieb leicht unter seinen Möglichkeiten, was seine Fähigkeiten im Dribbling und Passspiel angeht. Dafür zeigte er sich aber torgefährlicher als je zuvor. Er schlägt Kobbie Mainoo um eine Fußlänge.
Sechs spanische Akteure, dazu zwei Deutsche, ein Franzose, ein Schweizer sowie ein Georgier. Es war wahrlich nicht die EM der Individualkönner. Die Engländer, Franzosen und Niederländer ließen mit ihren defensiven Strategien wenig Raum für individuelle Entfaltung. Auch dafür wird diese EM in Erinnerung bleiben.
Ein Dank zum Schluss
Damit wären wir am Ende des Tagebuchs angelangt. Es war das dritte Turnier, das ich auf meinem Blog begleitet habe. Auch wenn das Turnier im Vergleich zu 2021 und 2022 weder sportlich überzeugte noch dermaßen politisch aufgeladen war: Es gab dennoch genug Themen, über die ich meinen Senf ausgießen konnte.
Ich möchte mich bei euch bedanken, liebe Leserinnen und Leser, dass ihr die Beiträge weiterhin konsumiert. Die Blogosphäre liegt im Sterben. Instagram, Tik Tok und Twitter machen es unabhängigen Journalisten schwer, ihre Inhalte zu verbreiten. Links zu anderen Seiten sind dort entweder nicht möglich oder werden – wie im Fall von Twitter – massiv bestraft in Form von verminderter Reichweite. Auf meiner Seite waren Klickzahlen zwar nicht so beeindruckend wie 2021, aber deutlich besser als bei der boykottierten WM 2022. Insofern vielen Dank für alle, die in Zeiten des Social Media noch Newsletter abonnieren oder auf Seiten wie dieser vorbeischauen!
Ein besonderer Dank gebührt allen, die über Ko-Fi eine kleine Spende überwiesen haben. Mittlerweile habe ich mit diesem Tagebuch einen vierstelligen Beitrag eingenommen. Das weckt in mir den Geist, diesen Blog auch abseits der großen Turniere zu reaktivieren. Spätestens in zwei Jahren werden wir uns an dieser Stelle wiedersehen, wenn die Weltmeisterschaft in Nordamerika ansteht. Bis dahin: Gut Kick!
Das Titelbild zeigt Alvaro Morata und stammt von dianjay. Lizenz: CC BY 3.0.
Top Tagebuch, Schönen Urlaub
Bester Fußballblog, mit Abstand. Vielen Dank!
Kein Xhaka? Klar, kann verstehen, dass mit Rodri und Kante da starke Kandidaten dabei sind, aber Xhaka war schon stark anzuschauen und selbst wenn man die BL nicht verfolgt hat, konnte man da sehen, was ein Teil des Leverkusener Erfolgs ist.
Geh mit Deiner Auswahl mit, Tobi. Auch bei mir wären 7 Spanier in der ersten Elf.
danke für die wie immer lesenswerten tagebucheinträge! ein turnier ist für mich immer besser wenn ich dabei deinen blog lesen kann.
Danke für die Spielanalysen und die Einschätzungen der EM
Es macht immer wieder Spaß sie zu verfolgen
Gru0 Uwe